Das Cabaret ist ein Ort, an dem man die Wirklichkeit vergisst

Regisseurin Barbora Horáková Joly und Bühnenbildnerin Eva-Maria van Acker im Interview über ihre Idee zu Giuseppe Verdis Opernklassiker „La traviata“.

Juliane Schunke: Ein Großteil der Handlung von „La traviata“ spielt in Ihrer Inszenierung in einem Cabaret, das in seiner Ästhetik und Ausstattung dem späten 19. Jahrhundert in Paris entstammen könnte. Das ist aber nicht die Zeit, in der wir spielen, oder?

Barbora Horáková Joly: Richtig. Die Geschichte von Violetta und Alfredo spielt in der Gegenwart, aber das Cabaret im Stil der Belle Époque ist der Ort, an dem Violetta allabendlich als Unterhaltungskünstlerin auftritt, es ist ihr Arbeitsplatz. Die Überlegung war, einen Ort für die Fest-Bilder zu finden, den es auch heute noch geben könnte und der sich mit Violettas Gewerbe als Kurtisane verbinden lässt. Ästhetisch dient das berühmte Moulin Rouge in Paris und auch die Mode dieser Zeit als Vorbild. Tänzerinnen gehen im Cabaret ein und aus, werden zu begehrenswerten Kunstfiguren, die nach der Show ihrem zweiten Gewerbe nachgehen, außerhalb des Clubs aber in einen normalen Alltag mit Einkauf im Supermarkt und einem Privatleben zurückkehren. Unsere Violetta ist der umjubelte Star eines solchen Cabarets, der des Nachts funkelt und strahlt, tagsüber aber mit einer unheilbaren Krankheit kämpft.

Für das Publikum – die Gesellschaft im Stück – ist das Cabaret ein Ort, an dem es die Wirklichkeit vergisst, sich kostümiert, sich verwandelt und einfach nur Spaß hat. Das Cabaret schafft die Illusion einer Welt, in der alles möglich ist: Das Vergnügen ist grenzenlos und auch eine von Anfang an aussichtslose Liebe wie die von Alfredo und Violetta scheint dort für einen Augenblick eine Zukunft zu haben. Oder eine todkranke Frau kann durch die Macht der Liebe den Tod besiegen.

Juliane Schunke: Giuseppe Verdi porträtiert in „La traviata“ seine Gegenwart, die Gesellschaft und ihre Themen um 1850. Wie verhaftet ist Violettas Geschichte in dieser Zeit?

Barbora Horáková Joly: Ich halte die Geschichte für zeitlos. Es geht ja nicht um den Look oder den Rahmen, sondern es geht um die Menschen, um das, was sie spüren. Die Themen dieser Oper wie Liebe und Tod, die Auseinandersetzung zwischen Gesellschaft und Individuum und ein Vater, der seine Familie beschützen will, sind nach wie vor sehr aktuell. Junge Menschen sterben auch heute an unheilbaren Krankheiten, tragen ein Stigma oder müssen Verzicht auf die Liebe ihres Lebens leisten. Und der Tod selbst ist immer ein Teil unseres Lebens, und dass er immer zu einem schlechten Zeitpunkt kommt, weil er nie zum „richtigen“ Zeitpunkt kommen kann, ist auch etwas, was jeder kennt. Ich will wirkliche Menschen und ihre Emotionen auf der Bühne zeigen, Menschen die ich verstehen kann.

Juliane Schunke: Wie stellt man ein Cabaret auf eine Opernbühne? Ist das ein Theater auf dem Theater?

Eva-Maria van Acker: Genau. Unser Cabaret steht auf einer Drehscheibe mit verschiedenen Drehrichtungen, hat eine Schaukel für den Star des Abends und seinen eigenen, natürlich roten Vorhang. Diese Grenze zur Außenwelt im doppelten Sinne ist sehr wichtig. Neben der Abgrenzung zum Publikum der Semperoper gibt es im Stück die Unterscheidung zwischen einer schillernden makellosen Außenwelt und einer privaten Innenwelt der Figuren. Für uns war es sehr wichtig, dass der Bühnenraum nicht nur das schöne Cabaret mit seiner tollen Ausstattung, Lämpchen, Dekoration und allem, was man als Zuschauer so erwartet, zeigt, sondern, dass er auch andere, privatere Orte und Situationen zulässt.

Juliane Schunke: Sehen wir die private Welt Violettas außerhalb des Cabarets?

Eva-Maria van Acker: Wir sehen sie im zweiten Akt, wenn Violetta fern ihres Gewerbes keine Diva mehr ist, sondern mit Alfredo ihr Glück genießt, auch wenn das Ganze eher einer Idee als einer wirklichen Veränderung entspricht. Das Gerüst des Cabarets ist immer präsent und wirkt gerade dadurch wie ein Käfig, denn Violetta ist dem Cabaret und seiner Welt ebenso wie dem Tod nie wirklich entkommen.

Gleich zu Beginn des Abends und dann wieder im zweiten und dritten Akt sehen wir zum Beispiel Violettas Sterbebett – im Zentrum des Cabarets. In anderen Momenten ändert sich plötzlich die Atmosphäre, gerade noch ist es warm und hell und auf einmal wird alles kalt und das Licht fahl, die farbenprächtige Welt des Cabarets schwarz-weiß. Dafür haben wir auch stark mit Licht und Video gearbeitet, um das Publikum in diese Empfindungswechsel Violettas mitzunehmen. Wir wollten den Verfall des Lebendigen zum Toten sichtbar machen. Im 17. Jahrhundert gab es mit den Vanitas-Stillleben eine ganze Kunstrichtung, die die unabwendbare Vergänglichkeit allen Lebens in beeindruckende Bilder fasste. Die Videokünstlerin Sarah Derendiger hat dafür eigene animierte Stillleben kreiert, die in unserer Bühne und auf dem Vorhang zu sehen sein werden.

Juliane Schunke: Ist Verdis Oper für euch eine Erzählung in logischer Abfolge? Mir scheint eher, dass es sich um eine Ansammlung von Augenblicken in den Erinnerungen und Wünschen einer liebenden und gleichzeitig sterbenden Frau handelt.

Barbora Horáková Joly: Im Großen und Ganzen erzählen wir die Geschichte chronologisch. Aber die Unterschiedlichkeit der emotionalen Zustände Violettas gibt uns die Möglichkeit, in der Geschichte von einer linearen Erzählung und einer genauen Unterscheidung zwischen Realität, Erinnerung, Traum und Wunsch abzuweichen. Es könnte ja auch alles ein Traum sein, eine Vision im Fieber kurz bevor sie stirbt. So sind zum Beispiel Momente, in denen Violetta hofft, ein Leben mit Alfredo wäre wirklich möglich, sein Vater würde in ihr eine Tochter sehen oder, dass Alfredo am Ende zu ihr zurückkommt, wissend, was sie für ihn getan hat, von vornherein utopisch. Als einzig real muss sie immer wieder ihren baldigen Tod anerkennen.

Das Gespräch führte Juliane Schunke.

La traviata
Giuseppe Verdi
PREMIERE 2. Oktober 2022

Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Semperoper - Förderstiftung

Weitere Informationen: www.semperoper.de/spielplan/stuecke/stid/traviata

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