Die Tänzer:innen sind der Schlüssel

Der britische Associate Choreographer des Semperoper Ballett, David Dawson, bringt in Dresden mit der Uraufführung von „Romeo und Julia“ nach seinen gefeierten Produktionen sein viertes Handlungsballett auf die Bühne. Die renommierte britische Tanzkritikerin Maggie Foyer und Produktionsdramaturgin Freya Vass sprachen mit ihm über seine Ästhetik.

 

Was hat Dich auf die Idee gebracht, dass das Erzählen ein wichtiger Bestandteil des Tanzes ist, oder etwas, das Du in Deine Arbeit einbeziehen willst?

David Dawson: Kenneth MacMillan war für mich ein erstes Vorbild in dieser Hinsicht. Ihm bei der Arbeit zuzusehen war in gewisser Weise so, als würde man einem Gott zuschauen. Er ist eine Legende, das war er schon damals. Doch ich glaube nicht, dass es für mich so sehr um das Erzählen oder Nichterzählen einer Handlung geht. Mich interessiert vielmehr, ob ein Choreograf die Fähigkeit besitzt, eine Vision von Tanz zu schaffen. Ich selbst fühle mich eher zum Nichtlinearen hingezogen, zum Abstrakten. Aber von Kenneth fühlte ich mich unterstützt; ich hatte das Gefühl, dass er an mich glaubte und mich künstlerisch auf einen Weg führte, den ich für den richtigen hielt.

„Giselle“ war dein erstes Handlungsballett, und du hast es im wahrsten Sinne in seine Bestandteile zerlegt. Du hast es mit Yumiko Takeshima und Raphaël Coumes-Marquet in den Hauptrollen kreiert. Ist es etwas Anderes, in einer Erzählung Charaktere durch Bewegung und Emotionen zu entwickeln, als in einem abstrakten Stück, jenseits der üblichen traditionellen Lesart des Dramas?

David Dawson: Für mich gibt es im Grunde keinen Unterschied zwischen einem narrativen und einem abstrakten Ballett. Für mich geht es beim Ballett um die Tänzer:innen und die Interpretation. Demnach war der Schaffensprozess von „Giselle“ für mich dasselbe, wenn auch detaillierter in Bezug auf den Versuch, der Geschichte eine tiefere Klarheit zu verleihen. Nichtsdestotrotz ist es der/die Tänzer:in, welcher/welche die Rolle von Giselle oder Albrecht verkörpert, und ich brauchte ihnen keinen Hut oder Stock zu geben, um sie herausfinden zu lassen, wer ihre Giselle oder ihr Albrecht sein würde. Die Choreografie reichte aus, damit sie ihren Weg finden konnten. Ich baue die Szenen auf, und habe für jede ein Ziel vor Augen. Mit diesem System arbeite ich in all meinen Werken. Jón Vallejos Variation in „The Four Seasons“ – der Sommersturm – zum Beispiel stellt genauso eine Erzählung dar wie „Giselle“ oder „Schwanensee“, der als Loslösung von jeglicher Narration erachtet wurde. Darauf folgten „Tristan + Isolde“ und nun „Romeo und Julia“. Nach meinem Empfinden arbeite ich hier auf dieselbe Art und Weise. Es geht darum, etwas auf eine andere Ebene zu bringen. Die Tänzer:innen sind der Schlüssel! In der Interpretation der tanzenden Künstler:innen liegt auch der Zugang zur Bedeutungskraft eines Werkes. Es ist wie bei Michel Fokines Solo „Der sterbende Schwan“ (UA 1905) – es gibt kaum etwas [Erzähltes], aber die Idee und die Verpackung der Idee durch den Künstler hallt irgendwie im ganzen Universum wider.

Deine klassischen Erzählungen „Giselle“ und „Schwanensee“ haben ihre „weißen Akte“, einen Ort, der sich von der irdischen Welt entfernt und in eine Sphäre führt, die man nicht vollständig ergründen kann. Doch Werke wie „Tristan + Isolde“ und „Romeo und Julia“ bieten das eigentlich nicht. Lässt sich trotzdem zum Beispiel in den Pas de deux der Liebenden ein intimer „weißer“ Raum finden?

David Dawson: Auf jeden Fall. Allerdings gibt es noch andere Dinge hinzuzufügen. Der I. Akt von „Giselle“ ist in mancher Hinsicht erfolgreicher als der II., weil er Textur, Rhythmus und Menschlichkeit in sich birgt. Wir haben ein wunderschönes Liebesduett, wobei sich aber jede:r auf sehr menschliche Art und Weise verhält. Das wird im II. Akt weggenommen, wo es sehr, sagen wir, spirituell wird. Es ist wie in „Les Sylphides“ (M. Fokine: UA 1906), es ist dieser weiße Raum. Auch bei „Schwanensee“ denke ich, dass meine weißen Akte die erfolgreichsten Teile dieser Produktion waren. Doch was ich an der Zwischenmenschlichkeit bei der Kreation von „Romeo und Julia“ am meisten genieße, ist die Company – die Menschen. Das ist das Besondere für mich. Das Semperoper Ballett ist wirklich ein einzigartiges Kollektiv aus Individuen. Es sind tiefgründig denkende, emotionale, intelligente Menschen – sie lieben einander, kümmern sich umeinander und das ist wirklich ein natürliches Charakterporträt des Volkes aus „Romeo und Julia“ – das ist die Company. „Romeo und Julia“ mit dem Semperoper Ballett zu inszenieren, bedeutet, das Ensemble zu versinnbildlichen. Das macht das Ensemble zu etwas Besonderem ... weil ich es auch liebe.

Hattest du für das Ende eine Art Versöhnung wie bei Shakespeare in Betracht gezogen, bei der die Tatsache, dass Romeo und Julia sich geopfert haben und ihre Liebe einige Veränderungen mit sich gebracht hat, berücksichtigt wird?

David Dawson: Wir haben darüber gesprochen, und mein Instinkt war, „nein“ zu sagen – weil die Welt diese Lektion niemals zu lernen scheint. Aus meiner Sicht werden die Dinge in vielerlei Hinsicht nur noch schlimmer. Die Menschen lernen nicht und sie hören nicht zu. Ich weiß, wie ich mich anhöre, aber ich bin sehr frustriert darüber, dass wir als Gesellschaft nicht genug Fortschritte gemacht haben und sogar im Gegenteil Rückschritte machen. Ich wollte Hoffnungslosigkeit, ein absolutes Ende, den Tod. Es gibt kein „Happy End“ und keine Versöhnung. Ich sehe nichts dergleichen auf dieser Welt.

Die Tragödie besteht in gewisser Weise darin, dass Julias Eltern aus den Augen verloren haben, was es heißt, ein Mensch zu sein, und ihrem Kind dieses Gefühl nicht vermitteln können.

David Dawson: Ich würde wollen, dass meine Julia einen freien Willen hat und ihre eigene Zukunft gestaltet: selbst die Zukunft, die sie für sich am Ende erschafft, dieses sehr schnelle Gefühl der Zerstörung –  der Entschluss, zu sterben, weil das Leben ohne diese Liebe für sie nicht lebenswert ist. Daraus ergibt sich in gewisser Weise unser tiefer Sinn für das Romantische – es ist das Wählen und das Fällen einer Entscheidung. Ich glaube in der Tat an die Macht der Liebe, aber ich denke, sie ist eine Macht, die zu wenig Beachtung findet, weil wir so sehr mit anderen Dingen beschäftigt sind. Julia und Romeo sind in diesem Ozean aus unterschiedlichen Lebenserfahrungen gefangen; und das ist eine andere Ebene als das, was alle anderen erleben. Niemand kann sehen, was die Liebe bewirken kann, die Freude, die sie mit sich bringt, oder wie sehr man durch sie den Willen dazu entwickeln kann, zu kämpfen oder Opfer zu bringen. Gerade deshalb lohnt es sich, diese Geschichte immer wieder zu erzählen – diese Botschaft der reinen Liebe.

ROMEO UND JULIA

Choreografie, Konzept und Inszenierung David Dawson
Ballett in drei Akten

URAUFFÜHRUNG am 5. November 2022

Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Semperoper – Förderstiftung

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